seeland-news.ch | |
created by wäältyy winkler, FamousDigitalArtist | |
seeland-news.ch, walter winkler, mediamatiker - moosweg 12, ch-2572 moerigen - E-Mail | |
Das Bieler Ried -
Eine Hommage an meinen Grossvater Text, Bild und Video von Walter Winkler |
|
<<< zurück | |
Er
gehörte zu seinen Lieblingsspaziergängen, der Paul Robert-Weg im Bieler
Ried. Von der Villa Robert die sanfte Steigung hinan, vorbei am
Kinderheim Stern. Etwa in der Mitte zum Rotgärtli findet sich heute noch
eine Einbuchtung auf der rechten Mauerseite, die den Weg nach oben
säumt. Hier muss einmal ein Haus gestanden haben, mögen sich
Spaziergänger denken – was indessen auch zutrifft. Er mochte sich noch
an frühere Ausflüge mit seiner Familie, an zahlreiche Exkursionen und
Begehungen mit der Schule daran erinnern, dass das nun baufällige Haus
lange Zeit Wind und Wetter trotzte. «Hier
ist dein Grossvater Johannes aufgewachsen, hier hat er seine Kindheit
und Jugend verbracht», sagten ihm seinerzeit seine Eltern. Ja, der
Grossvater. Über ihn gab es leider keine Aufzeichnungen irgendwelcher
Art, die den Nachkommen hätten übergeben werden können – man hatte nur
ein paar Fotos, von jenem Rebhaus im Ried, von Grossmutter und
Grossvater mit ihrem Wachhund «Seppli», ein Spitzer, treu aber bisweilen
auch ein bisschen falsch, vor allem gegen das Enkelkind oder auch gegen
den Briefträger. Als Hans-Peterli – eben, jenes Enkelkind – einmal die
Grosseltern besuchte – sie verbrachten ihren Lebensabend in Ligerz –
zerriss es den kleinen weissen Hund derart vor Eifersucht, dass er den
Buben in die Ferse biss. Zum Geheul des Enkels gesellte sich bald auch
das Gejaule des Hundes, dem der Grossvater gottsjämmerlich den Hintern
verdrosch. Auch musste einmal die Grossmutter dem Briefträger die Hosen
behelfsmässig nähen, weil der eifrige und pflichtbewusste Wächter ihn in
den Allerwertesten biss und den Hosenboden verhudelte. Der Briefträger
musste dann in der Küche in den Unterhosen zuwarten, bis die Dame des
Hauses die Hose wieder einigermassen zusammengeflickt hatte und wieder
angezogen werden konnte. Für «Seppli» hatten diese Eskapaden ausser
herzhaftem Prügel keine Konsequenzen. Sonntags, wenn Grossvater zur
Festi spazierte, eilte der treue Hund freudvoll voraus, wartete dann
aber, um zu schauen, ob Grossvater denn auch wirklich nachkommt. Von
weiteren Beissattacken ist indessen nichts bekannt.
Auf Grund der spärlichen Schwarz-Weiss-Fotos, aber vor allem auf Grund
der teils flüchtigen, aber auch ausführlicheren Äusserungen von
Verwandten und Bekannten, Äusserungen, die in ihm langsam nach und nach
emporstiegen, ergaben sich für ihn ein buntes Mosaik, das er langsam und
stetig zu einem lebendigen Porträt zusammenfügen konnte. |
|
* * * | |
Der Grossvater hiess Johannes. Er war Sohn einer Küffer-Familie, deren Geschick weit herum bekannt war, von Alfermee und Twann über Ligerz, ja, sogar vom Neuenburgischen her war ihr Können gefragt. Mit dem guten, handwerklichen Ruf war indessen auch ihr oft übermässiger Alkoholkonsum verbunden, was indessen nicht alle Leute guttierten. Wie dem auch sei, Johannes wuchs mitten in Rebbergen, kleinen Äckern und nahe beim Wald, im aparten, eigenen und inspirierenden Ambiente des Bieler Rieds auf. Er hatte keine Freunde und galt als Sonderling, als Eigenbrötler. Was ihm zu fehlen schien, das gab ihm sein Wohnort mit seiner wundersamen Umgebung. Er liebte die Natur. Im Frühling das wunderbare Blühen und Duften der vielfältigen Gewächse, das zarte Grün der Laubbäume. Er verstand sich auch auf den Vogelgesang. Er wusste den Buchfinken, die Amsel, die Kohl- und Blaumeise und sogar den Pirol und andere seltene Vögel anhand ihrer Laute eindeutig zu bestimmen – eine Eigenschaft, die ihm in der Schule viel Lob und gute Noten einbrachte. Im Herbst beeindruckten ihn die bunten Blätter in Feld und Wald und im Winter das inspirierende Weiss der bezaubernden Landschaft. Die verschiedenen Wege und auch die sanften Hänge des Rieds luden kleine und grosse Kinder zum Schlitteln und Skifahren ein. Fast tagtäglich herrschte hier ein reger Betrieb, wobei sich auch ganze Schulklassen einfanden – um dem hier eher bescheidenen aber nicht minder geschätzten Wintersport zu frönen.
* * *
Zu den Liedern der Natur und der Tiere vom nahen Hof mit seinen Ställen,
die Johannes so schätzte, gesellte sich – vorerst eher unbewusst – dann
mit zunehmendem Alter immer deutlicher ein anderes Lied, ein hartes,
metallisches Geräusch und ein Zischen und Pfeifen der Züge, die von Biel
nach Sombeval unterwegs waren. Zu den Kuhglocken erklangen in
regelmässigen Abständen die Signal-Glocken bei der Ausweichstelle mit
Bahnwärterhäuschen «Malenwald»: für die einen Lärm, für andere wie
Johannes moderne Musik: die Technik hat nach und nach auch im
Bewusstsein von Johannes Einzug gehalten. Oft ging er vom Rotgärtli in
Richtung Taubenloch hinunter zum Bahngleis und bewunderte dort die
Ungetüme, die zischend an ihm vorbeidampften, Richtung Schlucht. Bald
entwickelte sich mit Bahnwärter Louis eine innige Freundschaft, deren
Grundlage das gemeinsame Interesse an der Eisen-Bahn bildete. Bahnwärter
Louis klopfte
regelmässig die Strecke durch die Taubenlochschlucht ab, um unter
anderem die Geleise zu überprüfen. Nicht selten mussten Steine, die aufs
Bahntrassee gefallen waren, entfernt werden, sodass die Strecke wieder
einwandfrei befahren werden konnte. Zu seinem Geburtstag wünschte sich
Johannes einst eine Bahnfahrt von Biel nach Frinvillier (zu gut Deutsch
«Friedliswart»), um von dort dann durch die Taubenlochschlucht nach
Biel-Bözingen zu gelangen. Johannes kam bei diesem Exkurs mit Mutter und
Vater voll und ganz auf seine Rechnung. Es war für ihn ein erstes,
eindrucksvolles Erlebnis, wie Häuser, Parkanlagen, Gärten, aber auch
Menschen, an ihm vorbeiflogen; so hat er die Bieler Altstadt mit der
Stadtkirche oder das Dreiseen-Land noch nie gesehen; auch die Fahrt
entlang dem Quartier Schützengasse, Reuchenettestrasse, ja seine Heimat,
das Ried, präsentierten sich in einer völlig neuen und ungewohnten
Optik; manchmal zogen weisse, dann wieder dunkle, russige Schwaden von
der Lokomotive am Wagenfenster vorbei; auffallend war für ihn auch der
Geschmack nach Russ und Maschinenöl und -fett, der mehr oder weniger
intensiv mitzufahren schien – jedenfalls in der dritten Klasse; auch
diesbezüglich eine ganz andere, neue und kaum vermutete
Geschmacksrichtung, im Gegensatz zum sanften, dann wieder intensiveren
Duft und Parfüm des Rieds.
. Eindrucksvoll auch die Schienenführung hoch über der Schlucht durch
die beiden Tunnel und über die vielbewunderte Bogenbrücke. Beim Gang
durch die wildromantische Schlucht blieb die Eisenbahn allgegenwärtig,
bisweilen sichtbar hoch oben am Hang über den Wassern, hörbar durch das
Zischen und Pfeifen der Lok oder dem Schienengeratter. In Bözingen
angekommen bestieg man die Strassenbahn, die nach Nidau führte – für
Johannes ein weiteres Erlebnis; bei der Mühlebrücke stieg man aus und
fuhr dann nach einem kurzen Lauf durch die Bieler Altstadt mit der
Drahtseilbahn Biel – Leubringen bis ins Beaumont, von dort war es dann
ein Leichtes, wieder ins heimische, idyllische Ried zurückzukehren.
– Für Johannes war dieser
Geburtstag ein erlebnisreicher, vielleicht auch ein bisschen ein
aufwühlender Tag mit seinen mannigfaltigen Facetten: da Technik – dort
Natur.
Die 42 Kilometer lange Strecke von Biel über Sonceboz-Sombeval nach Convers mit der Abzweigung von Sonceboz-Sombeval nach Tavannes wurde von der Jura bernois (JB) erbaut und am 30. April 1874 eröffnet. In Convers wurden die Wagen für das kurze Reststück bis La Chaux-de-Fonds von den Zügen aus Neuchâtel übernommen. Damit liess sich vorerst ein zweiter Tunnel durch den La Chaux-de-Fonds vorgelagerten Hügelzug vermeiden. Die ursprüngliche Forderung der Stadt Biel, das Pasquartquartier mit einer Spitzkehre bei Vingelz zu umfahren, verzögerte den Bau.
«Eins, zwei, drei, im Sauseschritt, läuft die Zeit, wir laufen mit»,
schrieb Wilhelm Busch in seiner Trilogie «Tobias Knopp», eine Lektüre,
die sich Johannes in bestimmten Mussestunden gerne zu Gemüte führte.
Auch wir laufen mit und machen dort einen Halt, wo es darum ging, nach
der Schule eine Lehre anzutreten. Für die Eltern war es
selbstverständlich, dass er sich für den Beruf eines Küffers oder eines
Rebbauern entscheiden würde, oder für irgendeinen anderen Beruf, der mit
Weinbau zu tun hatte. Diese Erwartung machte Johannes nachdenklich. Soll
und muss er sich nach der Familientradition richten? – Was würden die
Verwandten und die Leute schlechthin sagen, wenn er aus dieser Tradition
mit ihrem Umfeld ausscheren würde? – Das Dampfen, Zischen und Pfeifen
der Lokomotiven und das metallische Geratter der Räder, die auf
den Schienen dahinglitten – all dies kam ihm vor wie ein
verführerischer, sehnsüchtiger Ruf: Folge uns, folge deinem Herzen! – Am
liebsten hätte er eine Mechanikerlehre angefangen und liebäugelte im
Hintergrund mit der Möglichkeit, einmal dann mit der Eisenbahn zu tun zu
haben. – In der Tat waren seine Eltern entsetzt, als er ihnen seine
Wünsche und Vorstellungen vortrug. «Was, Hä?!», schrien sie alle beide,
Vater und Mutter. – «Mechaniker, Eisenbahner, Lokführer – alles Quatsch!
– Du bleibst schön bei unseren Leisten, und damit basta!» - Johannes war
bitter enttäuscht. So unmöglich und unerfüllbar sich seine
Zukunftsvisionen gestalteten, so verlockender tönte das harte Lied des
Dampfes, des Eisens – des neuen Zeitalters. Eines Tages wurde in der
Wohnstube wieder einmal mit Freunden und Kollegen tapfer gezecht –
gelacht, gelallt und gebrüllt – Johannes kam es etwas unheimlich vor;
jetzt wusste er es ganz genau, dass er – sofern er seine Ziele erreichen
wollte – Eltern und Haus verlassen und ganz allein und auf sich selbst
gestellt, sein künftiges Leben gestalten müsste. Aus dem «Müsste» wurde
langsam aber sicher ein «Muss» und er arbeitete bald an den
verschiedensten Szenarien, wie er es anstellen sollte – Eines schönen
Sommermorgens – es war ausgesprochen warm - erschien Johannes nicht mehr
am Frühstückstisch. Für die Eltern war es so unheimlich still und eine
dumpfe Ahnung überkam sie. Sie suchten sein Zimmer auf – es war leer,
das Bett unberührt – nur einige kleine Bildchen, die an der Wand hingen,
waren auch verschwunden. Den Eltern kam es so vor, als wäre das ganze
Wesen, gewissermassen die «Seele» von Johannes, auch verschwunden. Wut
und Furcht und dann auch bittere Vorwürfe sich selbst gegenüber
wechselten das Denken und Fühlen der Eltern. Sie wurden nachdenklich und
malten sich die schrecklichsten Szenarien rund um das Verschwinden ihres
Sohnes aus. Vielleicht hätte er einen Abschiedsbrief schreiben sollen,
um die schlimmsten Befürchtungen abzuschwächen, aber nichts Dergleichen
war auffindbar –
Hier genau an dieser Stelle fehlen Hinweise, sei es von Verwandten oder Freunden, wie sich Johannes durchgeschlagen haben könnte: man könnte allerlei fantasievolle Begebenheiten anführen, zum Beispiel, wie er bei Bauern kurz aushelfen konnte und so Kost und Unterkunft, wenigstens für ein bis zwei Tage und Nächte, erhielt. Und auch: mit welchen Leuten, Handwerksburschen oder Fahrenden, er unterwegs gewesen sein könnte, wobei eine fein abgestufte, Dramaturgie der Ereignisse nicht hätte fehlen dürfen.
Man könnte auch erwähnen, wie er von Andern ohne festen
Wohnsitz die sogenannten «Gaunerzinken» zu deuten und selbst anzuwenden
lernte: «bissiger Hund», «hier gibt’s Essen», «hier kann man
übernachten», «fromm tun lohnt sich», usw. usw. Es sei hier ausdrücklich
erwähnt, dass diese Zeichen, an Hausmauern und -türen und Zäunen, nicht
nur von Einbrechern benutzt wurden, wie vielerorts behauptet wird,
sondern eben von Menschen unterwegs, die keinen festen Wohnsitz hatten
(siehe Abbildung unten).
Er traf sicherlich auch Menschen, die ihm gut gesinnt waren und die ihm
irgendwie weiterhelfen konnten. Auch darüber ist nichts bekannt, wie er
schliesslich mit seinen Eltern verblieben war – ob er in versöhnlicheren
Tönen geschrieben hat – all diese Hinweise fehlen. Nach einem
Groschenroman – grosses Glück für wenig Geld -
wäre Johannes auf sehr
abenteuerliche Weise unterwegs gewesen, hätte dann Arbeit gefunden, wäre
vom Tellerwäscher in eine höhere berufliche und gesellschaftliche
Position gelangt; natürlich hätte dann auch eine leidenschaftliche
Lovestory mit anschliessendem Happyend nicht fehlen dürfen.
Nun – hin und wieder kommt es vor, dass die harte Realität bisweilen
fantasie- und poesievoller sein kann, als man sich dies in seinen
kühnsten Träumen hätte vorstellen können. – Bei Johannes war dies
zutreffend, was bei seiner Rückkehr nach Biel eindrucksvoll zum Tragen
kam: Er kam hoch zu (Feuer)ross, mit seiner hübschen Schaffhauserin
(Bild unten: Johannes mit Frau) und
den drei Kindern, ein Mädchen und zwei Buben, nach Biel zurück. Sie
bezogen ihr Quartier an der Karl Neuhaus Strasse, ganz in der Nähe des
Museums Schwab. Er konnte tatsächlich eine Mechanikerlehre in der
Ostschweiz absolvieren und erfolgreich abschliessen. Auch arbeitete er
in der Lokomotiven-Fabrik in Winterthur. Dann konnte er eines Tages
seinen grössten Jugendtraum erfüllen und Lokomotivführer werden. Er war
schweizweit unterwegs mit seinem treuen Heizer. Johannes W. wirkte
oberflächlich betrachtet sehr verschlossen – die Leute sagten, er hätte
einen abstrusen Charakter. Das dachte auch der Heizer, der ihm zugeteilt
werden sollte. Ihm wurde jedoch gesagt: «Der Johannes W. ist ein cooler
Typ, klar ist er bisweilen ein Sonderling, aber mit ihm ist bei einem
engeren Zusammenleben sehr gut auszukommen.» Und so wurden beide bald
enge Freunde, die sich eine Trennung nicht mehr hätten vorstellen
konnten.
Dann kam die Elektrifizierung der Bahnen in der Schweiz. Auch Johannes
fuhr mit der «neuen» Kraft. Er sagte jedoch einmal zu einem seiner
Söhne: «Wie vermisse ich doch die gute alte Zeit; damals wussten wir
noch, womit, mit welcher Kraft und Energie, wir fuhren. Heute ist es
ganz anders: wie von Geisterhand bewegt sich der Zug, die Lok macht
nicht mehr so vertraute Geräusche, sie atmet nicht mehr!» Später liess
sich die Familie in Ligerz nieder, wo Johannes dem Rebbau und der
Fischerei frönte. Er pflegte auch die Schiffsmotoren der Privatboote und
-jachten zu reparieren, wobei viele Besitzer es eigentlich vorgezogen
hätten, jemand anders damit zu beauftragen als diesen «komischen» Kauz.
Aber seine Erfahrung und sein handwerkliches Geschick war einfach einzig
in der näheren Umgebung.
Ob Johannes je wieder Kontakt mit seinen Eltern und Verwandten hatte,
ist nicht bekannt. Als die Familie noch in Biel wohnte, führte ihr
sonntäglicher Spaziergang nicht selten übers Ried – vorbei am Haus, wo
er seine Kindheit und Jugend verbracht hat ein Ort, der ihm stets eine
wahre Fülle von Gedanken und Erinnerungen an diese Zeit wachrief.
s FamousDigitalArtist
bildli oben: wääältyyy winkler with his büsi nino
|